Mit “All, Humans” installiert das Raqs Media Collective eine epistemische Videoskulptur. Die Gestaltung des neuen Gebäudes für die Fakultät für Linguistik, Kulturen und Künste auf dem Westend-Campus wird derzeit finalisiert. Das Design, das von Raqs Media Collective eingereicht wurde, konnte sich im von Hessen organisierten Wettbewerb “Kunst am Bau” durchsetzen. Die dreiteilige Installation mit dem Titel “All, Humans” wird offiziell bei einer Zeremonie im Foyer des neuen Fakultätsgebäudes am Abend des 2. November 2023 eröffnet. Die Studierenden des Masterstudiengangs “Curatorial Studies” haben in den letzten Monaten den Fortschritt des Projekts genau verfolgt und werden Einblicke in die kinematische Installation bieten und Diskussionen darüber mit den Künstlern sowie anderen Experten organisieren.
Mit ihrer provokanten, dreiteiligen LED-Videoskulptur “All, Humans” rücken die Künstler Jeebesh Bagchi, Monica Narula und Shuddhabrata Sengupta vom Raqs Media Collective die Grenzen der Universität ins Blickfeld. Die Installation zeigt Glas-skulpturen von Zeichen der Vai-Sprache, die auf den ersten Blick für die meisten Passanten unverständlich sind. Diese Zeichen stammen aus der westafrikanischen Mande-Sprache Vai, mit der auch Wissenschaftler an linguistischen Instituten nicht unbedingt vertraut sind. Diese Barrieren und andere Elemente der Installation verweisen auf historische, soziale und sprachliche Momente der Inklusion und Exklusion von Menschen und Wissen im universitären Kontext. Wer und was dürfen innerhalb der Struktur der Universität Platz einnehmen?
Die Installation besteht aus mehreren vernetzten Videobildschirmen auf LED-Modulen und ist an drei zentralen Gebäudeorten platziert. Im Eingangsbereich, in der Nähe der Schließfächer, sind Passanten eingeladen, innezuhalten, nach oben zu schauen und die Universität auf eine neue Weise zu erleben. Die Installation in der Bibliothek ist wie eine Projektionswand nach oben gerichtet und ermutigt die Betrachter, ihren eigenen Blickwinkel zu erweitern. Im Foyer in der Nähe des Hörsaals wird unter einer Art Baldachin, der den materiellen Teil der Videoskulptur bedeckt, ein neuer Raum zum Treffen, Gedankenaustausch und Verweilen geschaffen. Zusammen erzeugen die quadratischen LED-Module, die an architektonischen Gebäudeteilen angebracht sind, Zeichen aus Vai, einer der Mande-Sprachen. Videos zeigen Gouache-Zeichnungen und Glas-skulpturen, die die Wörter “alle Menschen”, “gleich” und “Geist” in Vai-Zeichen repräsentieren. Auf den anderen LED-Paneelen läuft auf einem dunklen Hintergrund auch in Vai der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: “Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.” Ein dem Stoff nachempfundenes LED-Gitter, das wie ein Baldachin geformt ist, hängt über jeder der Tragstrukturen. Illuminierte geometrische und florale Formen, die sich ständig verändern und neu formen, schweben über die Oberfläche.
Typisch für den Arbeitsprozess des Raqs Media Collective ist der sensitive Umgang mit lokalen Gegebenheiten, Kontexten und Situationen: Die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum bleibt ein konstanter Fokus und Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Praxis. Immer wieder kehrt das Kollektiv zur Frage zurück, wie der öffentliche Raum auf neue Weise genutzt und gestaltet werden kann. Das Wort “Raqs” bezieht sich übrigens auf den Begriff “Frequently Asked Questions” oder “FAQs” und bildet im Grunde sein Gegenstück: “Rarely Asked Questions”. Das Kollektiv hinterfragte bereits in vergangenen Projekten die normativen Strukturen der globalen Wissensproduktion in einem dekolonialen Kontext und beschäftigte sich damit, wie Institutionen wie Museen und Universitäten nach westlichen Standards arbeiten. Formen des Wissens und des Verständnisses nicht-westlicher Themen dringen noch selten in die Strukturen des Alltags in diesen Wissensproduktionsstätten ein.
Das Werk des Raqs Media Collective ist interdisziplinär, involviert eine Vielzahl von Medien und beschränkt sich nicht ausschließlich auf künstlerische Praxis. Beispielsweise kuratierten sie die Ausstellung “Hungry for Time. An Invitation to Epistemic Disobedience” (9. Oktober 2021 – 27. Februar 2022) in der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste Wien. Durch die Übernahme eines externen Standpunkts setzte sich das Kollektiv kritisch mit der Institution auseinander, suchte nach Möglichkeiten, den eurozentrischen und vorrangig männlichen Kanon der berühmten Sammlung zu durchbrechen. Die Idee bestand darin, die historische Kunstsammlung der Akademie unter Berücksichtigung des aktuellen Diskurses des Dekolonialismus in Kunstd und Kulturwissenschaften umzugestalten. Durch Hinzufügen von Werken vieler nicht-westlicher Künstler*innen verdeutlichte das Kollektiv die künstlerischen Positionen, die die Akademie bis dahin nicht berücksichtigt hatte. Das Raqs Media Collective spiegelte auch den westlichen Einfluss auf die Struktur des Museums wider: Die Ausstellung wandte sich gegen die übliche Chronologie, bei der eine Kunstepoche auf die andere folgt und Kunstwerke nach “Meister” und “Schüler” arrangiert werden. Stattdessen schufen sie durch Szenen, die an Spielszenen erinnern, Momente in ihrer Präsentation, in denen das Publikum innehalten und über das Machtgefüge in der globalen Wissensproduktion nachdenken konnte. Wie an der Akademie der Bildenden Künste Wien stellt das Kollektiv mit seiner Videoskulptur “All, Humans” im neuen Gebäude der Fakultät für Linguistik, Kulturen und Künste erneut gewohnte Wissensstrukturen in Frage.
Die Auseinandersetzung mit einer kuratorischen Praxis, die starre Strukturen abbaut und kritische Auseinandersetzung fördert, ist besonders aufschlussreich für die Studierenden des Masterstudiengangs “Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik”. Bei der Einweihung werden die Studierenden eine öffentliche Debatte mit dem Kollektiv führen. Um einen Dialog mit Besuchern und Gebäudenutzern zu fördern, haben die Studierenden ein Booklet sowie ein Kunstvermittlungsprogramm für “All, Humans” für das Wintersemester 2023/24 zusammengestellt. Einmal im Monat finden Führungen mit Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen statt. Darüber hinaus bieten die Studierenden zwei Führungen in einfacher Sprache und Gebärdensprache an. Sie laden außerdem regelmäßig zu Treffen unter den Baldachinen, sogenannten Versammlungen, ein, um auf Augenhöhe zu debattieren. Für die 15 Studierenden ist es wichtig, nicht nur das Medium und den Inhalt der dreiteiligen Installation zu vermitteln, sondern auch durch neue Treffpunkte und kritische Diskussionen auf dem Campus Aktivitäten zu unterstützen.
Das Kunstvermittlungsprojekt ist das jährliche Projekt der Studierenden, die ihr Masterstudium im Jahr 2022 begonnen haben. Die Entwicklung und Durchführung eines eigenen Projekts als Gruppe ist Teil des Lehrplans. In der Vergangenheit kuratierten die Studierendengruppen Ausstellungen im Projektzimmer “fffriedrich” in Zusammenarbeit mit den Museen, die mit dem MA-Programm zusammenarbeiten. Dieser Ausstellungsort liegt im Stadtzentrum von Frankfurt, nicht weit vom Römer, und ermöglicht es den Programmteilnehmern, mit kuratorischer Praxis zu experimentieren. Die Begeisterung des “Kunst am Bau”-Beauftragten für das Design des Raqs Media Collective für das neue Gebäude der Universität ist kaum überraschend. Die Arbeit schafft nicht nur die Möglichkeit, dass sich die Institute und das neue Gebäude mit einander identifizieren, sondern reflektiert auch das akademische Leben sowie die soziale und historische Verantwortung der Hochschule. Anstatt Forschung hinter verschlossenen Türen zu betreiben, plädiert sie für die Einbeziehung von Wissen weit über den Eurozentrismus hinaus.